Avid Pro Tools Carbon Test

Mit Pro Tools Carbon hat Avid nach über zehn Jahren wieder ein neues DSP-System vorgestellt. Welche innovativen Techniken darin stecken und warum dieses System vor allen Dingen Musiker adressiert, zeigt der folgende Test

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Die Veröffentlichung neuer Audiohardware ist bei Avid in den vergangenen Jahren immer seltener geworden. Das Flaggschiff Pro Tools HDX mit den PCIe-Karten und 18 Texas-Instruments-DSPs pro Karte sowie einem Avid-Audiointerface nach Wahl kam 2011 auf den Markt, auch wenn es bei den Audio-Interfaces in der Zwischenzeit neue Entwicklungen wie zum Beispiel das Avid Matrix oder Drittanbieter-Interfaces gab. Ähnlich alt sind Pro-Tools-HD-Native-Systeme, die im Unterschied zu Pro Tools Carbon und HDX keine DSPs zur Berechnung des Mixers und für Plug-ins bieten. Pro Tools Carbon arbeitet mit den gleichen 350MHz-DSPs wie eine HDX-Karte, diese lassen sich aber etwas smarter einsetzen.

Details

Audio-Interface: Ein- und Ausgänge

Beim neuen Pro Tools Carbon muss man zwischen der cleveren Softwarearchitektur und dem physikalischen Audio-Interface differenzieren: Die eine Höheneinheit in Anspruch nehmende 19-Zoll-Hardware kommt mit Anschlüssen für ein gehobenes Projektstudio, das bis zu 24 Audiosignale (bis 48 kHz) parallel aufnehmen will. Zum Monitoring stehen neben dem Monitorausgang für die Lautsprecher vier unabhängige Kopfhörerwege zur Verfügung, auch ein Talkback-Mikrofon ist eingebaut.
Wenn man alles addiert, kommt man auf 25 Eingänge bei bis zu 48 kHz: acht analoge, 16 ADAT-Kanäle plus Talkback-Mikrofon. An Ausgängen gibt es 34 Kanäle: den separaten Stereo-Monitorausgang, acht analoge, 16 ADAT-Kanäle und vier Stereo-Kopfhörerausgänge. Bei Samplingraten oberhalb von 48 kHz reduzieren sich die ADAT-Pipelines per SMUX auf vier Kanäle je Lichtleiterkabel bis 96 kHz und zwei bei bis zu 192 kHz.

Pro Tools Carbon ist ein komplettes Recordingsystem mit zahlreichen Ein- und Ausgängen, mit dem sich bis zu 24 Spuren gleichzeitig aufnehmen lassen.
Pro Tools Carbon ist ein komplettes Recordingsystem mit zahlreichen Ein- und Ausgängen, mit dem sich bis zu 24 Spuren gleichzeitig aufnehmen lassen.

Eigentlich mehr

Wenn man ein wenig genauer hinschaut, bietet das Carbon-Interface mehr als 25 Eingänge, wenn auch nur 25 gleichzeitig nutzbare. Denn für die acht analogen Inputs stehen insgesamt 26 verschiedene physikalische Eingänge zur Verfügung: acht Mikrofonvorverstärker, acht Lineeingänge auf der kombinierten XLR-/Line-Buchse (TRS) oder via D-Sub-Multicorebuchse sowie zwei Instrumenteingänge auf der Vorderseite des Interfaces. Die gedoppelten Lineeingänge via D-Sub bieten die Möglichkeit, neben einem Mikrofon auch eine Linequelle gleichzeitig anzuschließen, wenn auch nicht gleichzeitig zu nutzen.

Die Line-Ein- und -ausgänge sind als D-Sub-Buchsen (Multipin) konzipiert. Eine Anschlusstechnik, die Avid schon seit über 20 Jahren für seine Interfaces verwendet.
Die Line-Ein- und -ausgänge sind als D-Sub-Buchsen (Multipin) konzipiert. Eine Anschlusstechnik, die Avid schon seit über 20 Jahren für seine Interfaces verwendet.

Das Avid Carbon wird mit einer Standard-Pro-Tools-Lizenz geliefert, deren Limit eigentlich bei 32 I/Os liegt. Mit Carbon funktionieren aber trotzdem alle 34 Ausgänge des Interfaces parallel.

Anschlussformat AVB

Spätestens beim Anschließen an den Computer wird klar, dass Pro Tools Carbon über das AOIP-System  AVB (Audio Video Bridging) und nicht über USB, Thunderbolt oder dergleichen angeschlossen wird. Da Windows diesen Standard aktuell (Januar 2021) noch nicht unterstützt, läuft Carbon nur auf einem Mac mit mindestens macOS 10.15.6.

Die AVB-Verbindung zum Mac wird über ein Ethernetkabel hergestellt, der zweite Ethernet-Port am Carbon dient nun als Netzwerkanschluss für den Mac.
Die AVB-Verbindung zum Mac wird über ein Ethernetkabel hergestellt, der zweite Ethernet-Port am Carbon dient nun als Netzwerkanschluss für den Mac.

Während der eine Ethernetanschluss für die AVB-Konnektivität zum Mac zuständig ist, lässt sich der zweite Anschluss zur Verbindung mit dem lokalen Netzwerk oder einem EuCon-Controller verwenden, sodass man durch den Anschluss von Carbon keine Schnittstelle des Mac verliert.

Weitere Anschlüsse

Knapp die Hälfte der Rückseite des Gehäuses nehmen die acht Kombibuchsen für Mic- und Linesignale ein. Wer für maximale Anschlussvielfalt im Studio sorgen will, benutzt diese ausschließlich für Mikrofone und verwendet den daneben liegenden D-Sub-Anschluss zur Verbindung von Linequellen. Die Mikrofoneingänge fünf bis acht bieten je drei verschiedene Eingangswiderstände, zur optimalen Anpassung an das eingesetzte Mikrofon.

Fotostrecke: 4 Bilder Die Kombibuchsen können Mikrofon- oder Linekabel verarbeiten, die Mikrofoneingänge 5-8 lassen sich im Eingangswiderstand umschalten.

Die andere Hälfte der Geräterückseite bewohnen die beiden D-Sub-Anschlüsse für Lineein- und -ausgang (jeweils acht Kanäle), der separate Stereo-Monitorausgang, die beiden Ethernetanschlüsse, Wordclock In/Out, die insgesamt vier ADAT-Optical-Anschlüsse für maximal 16 Kanäle In und Out sowie ein Footswitch, der zum Ein- und Ausschalten des integrierten Talkbackmikros benutzt werden kann.

Um Samplingraten jenseits von 96 kHz zu realisieren, muss die höhere Samplingrate im Zusatzprogramm AVB Audio Configuration extra eingeschaltet werden. Da die Konfiguration für sehr hohe Samplingraten mehr CPU-Leistung in Anspruch nimmt, ist es sinnvoll, diese auch nur im Bedarfsfall einzuschalten.

Bedienmöglichkeiten des Avid Carbon

Bedient wird das Interface über zwei Encoder und einige farblich kodierte Taster auf der Frontseite. Während der linke Encoder der Vorverstärkung der analogen Eingangssignale zugeordnet ist, dient der rechte als Monitorcontroller für die Lautsprecher und für die Pegel der Kopfhörerwege. Zum aktuellen Zeitpunkt (Januar 2021) ist leider noch keine umfangreiche EuCon-Fernbedienung möglich.

Im Betriebszustand sind die Bedienelemente farblich gekennzeichnet. Eine EuCon-Einbindung ist zum testzeitpunkt noch nicht implementiert gewesen.
Im Betriebszustand sind die Bedienelemente farblich gekennzeichnet. Eine EuCon-Einbindung ist zum testzeitpunkt noch nicht implementiert gewesen.

Welche Software kommt mit Carbon?

Im Carbon-Produktpreis von etwa 4200 Euro ist zunächst einmal die DAW Pro Tools Standard im Wert von etwas mehr als 600 Euro enthalten. Dass Pro Tools Standard eigentlich ein I/O-Limit von 32 Kanälen hat, wollen wir an dieser Stelle mal nicht auf die Goldwaage legen. Carbon besitzt 34 gleichzeitig nutzbare Ausgänge und beweist damit höchstens, dass dieses I/O-Limit künstlich von Avid gesetzt ist.
Nach der aktuellen Avid-Terminologie ist dieses Pro Tools eine „subscription“, also ein Abonnement. Die Bezeichnung ist jedoch verwirrend: Die Lizenz kommt mit einem ein Jahr dauernden Upgrade- und Supportplan. Ist diese Zeit abgelaufen und man lizenziert nicht für ein weiteres Jahr, bleibt die Pro-Tools-Lizenz auf der zuletzt erreichbaren Version bestehen. Auch die gebundelten Drittanbieter-Plug-ins von Brainworx (bx_console N, _rockrack, bx_masterdesk), der McDSP 6050 Ultimate Channel Strip HD, Purple Audio MC77, die alle als AAX DSP arbeiten können, bleiben nach Ablauf des Lizenzjahres erhalten. Zusätzlich auch die vier gebundelten nativen Plug-ins: Arturia Rev Plate-140, Embody Immerse Virtual Studio, Native Instruments Vintage Organs und UVI Model D Piano. Ist der Lizenzzeitraum abgelaufen, bleiben aber nicht mehr alle Avid-Plug-ins erhalten, vor allen Dingen die Pro Serie. Das Erneuern des Updateplans zum Verlängern der Lizenz kostet derzeit zirka 200 Euro.
Addiert man die Preise der beigelegten Software, kommt man auf einen Gegenwert von über 2.000 Euro. Das ist vor allem für Einsteiger sehr attraktiv. Wer beim Kauf von Carbon bereits im Besitz einer Pro-Tools-(Ultimate)-Lizenz ist, kann sich entscheiden, ob er entweder die mit Carbon kommende Lizenz zusätzlich haben möchte oder ein einjähriges Renewal für die bestehende Lizenz. Wichtig: Die Laufzeit des Renewals beginnt nicht etwa mit dem Carbon-Kauf, sondern erst, wenn die aktuell laufende Lizenz ausläuft.

Beleuchtetes Avid-Logo des Carbon
Beleuchtetes Avid-Logo des Carbon

Strukturelle Veränderungen im Avid-Portfolio

Pro Tools Carbon ist mit der Hybrid Engine das innovativste Avid-Produkt seit der Einführung von TDM, es bricht aber auch den klassischen Unterschied zwischen Pro Tools Ultimate und Pro Tools Standard auf. Bislang war es immer so, dass die teureren Avid-Systeme wie HDX oder HD Native ausschließlich mit der teuren Ultimate-Variante von Pro Tools liefen. Carbon ist ein High-End-DSP-Produkt und kommt trotzdem „nur“ mit der Standardversion. Man kann das als Einschränkung betrachten, denn weniger bleibt schließlich weniger. Ich habe aber den Eindruck, dass Carbon vor allen Dingen ein Produkt für Musikschaffende mit Tracking-Rooms ist, die viele der zusätzlichen Ultimate-Features gar nicht benötigen, von dem 128-Spuren-Limit der Standardversion einmal abgesehen. Surround-Mixing, multiple Videospuren und erweiterte Automation benötigen überwiegend Anwender aus dem Post-Production-Bereich. Zu diesen strukturellen Veränderungen passt auch, dass mit Pro Tools Dezember 2020 endlich eine seit Jahren kritisierte Begrenzung gefallen ist: Besitzer einer Ultimate-Lizenz können einen weiteren Rechner mit einer Pro-Tools- oder Media-Composer-Lizenz als (Video)-Satelliten nutzen. Bis November 2020 war neben der Ultimate-Lizenz auch die Verwendung von Avid-HD-Hardware (Avid HD Native oder HDX) für diese Funktion erforderlich. Um Missverständnissen vorzubeugen: Carbon lässt sich natürlich auch mit der Softwarevariante Pro Tools Ultimate nutzen und bietet dann 384 Tracks plus zusätzliche Voice Packs (à 128 Tracks). Alle diese Extras sind aber aufpreispflichtig.
Mit Carbon ist Avid-DSP-Hardware erstmalig in einem mittleren Preissegment angekommen, das bislang vornehmlich von Firmen wie Universal Audio, RME, Apogee und so weiter beackert wurde. Gut so! Eine Modernisierung des Portfolios war dringend nötig.

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